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Historische Ursprünge und traditionelle Nutzung von Artemisia annua


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Es gibt Pflanzen, die sind nicht nur Teil der Natur, sondern auch Träger einer Erinnerung – einer kollektiven Erfahrung, die in Texten, Ritualen und Rezepturen überdauert. Artemisia annua ist eine solche Pflanze. Ihre Geschichte beginnt nicht in Laboren oder auf Märkten, sondern tief in der Welt traditioneller Heilkunst – in jenen Systemen, die über Generationen hinweg durch Beobachtung, Intuition und Erfahrung Wissen aufbauten.


In China, wo das Denken in Zyklen verläuft und Krankheit nicht als Feind, sondern als Zeichen innerer Unordnung gilt, war Qinghao – der alte Name für Artemisia annua – seit mindestens zwei Jahrtausenden bekannt. Der Arzt Ge Hong, der um das Jahr 340 n. Chr. lebte, empfahl die Pflanze in seinem Werk „Zhouhou Beiji Fang“ zur Behandlung von fieberhaften Erkrankungen. Bemerkenswert: Nicht gekocht, nicht destilliert – sondern roh zerstoßen und der Saft ausgepresst. Es war eine Methode, die erst Jahrhunderte später wiederentdeckt wurde, als man versuchte, Artemisinin auf schonende Weise zu extrahieren. Der Zusammenhang zwischen dieser antiken Empfehlung und moderner Pharmakologie ist mehr als nur Zufall – er ist eine Brücke.



Artemisia annua Chinesische Medizinbuch


Auch in späteren Jahrhunderten blieb Artemisia annua ein fester Bestandteil der chinesischen Heiltradition. Im 16. Jahrhundert katalogisierte der große Medizinhistoriker Li Shizhen die Pflanze in seinem monumentalen Werk „Ben Cao Gang Mu“. Er unterschied verschiedene Artemisia-Arten, eine Taxonomie, die für die moderne botanische Klassifizierung heute noch Relevanz besitzt. Qinghao war für ihn nicht nur Arznei – es war eine Pflanze, die Hitze klärt, toxische Zustände ausleitet, und damit im tiefen Sinne Ordnung stiftet.


Der indische Subkontinent folgte einer anderen medizinischen Philosophie – Ayurveda. Auch hier war die Balance zentral, doch sprach man von Doshas, von innerem Feuer und dem Fluss des Prana. In klassischen Texten wie der „Charaka Samhita“ finden sich Hinweise auf bitter-aromatische Kräuter, die dem Pitta-Typus entgegenwirken – solche, die Hitze aus dem Körper leiten. Zwar ist Artemisia annua nicht unter ihrem heutigen botanischen Namen belegt, doch die verwandte Artemisia vulgaris – Beifuß – war bekannt und wurde bei Fieber, Krämpfen und zur Stärkung der Verdauung verwendet. Die systematische Beschreibung der Pflanze, wie wir sie heute kennen, erfolgte später – ihre Wirkung war aber im Erfahrungsschatz bereits verankert.



Palm leaves of the Sushruta Samhita or Sahottara-Tantra from Nepal - Artemisia annua


In Afrika lebte die Pflanze – oder besser: ihre Schwester – unter anderem Namen. Artemisia afra, ohne Artemisinin, aber reich an anderen Bitterstoffen, wurde zur Behandlung von Bronchitis, Malaria, Entzündungen und Verdauungsbeschwerden genutzt. Noch heute ist sie in vielen Dörfern des subsaharischen Afrika fester Bestandteil der Volksmedizin. Die Anwendung erfolgte als Dampf, Tee oder durch das Auskochen frischer Blätter – oft kombiniert mit anderen Heilpflanzen, abgestimmt auf den Rhythmus der Erkrankung. In jüngerer Zeit wurde Artemisia annua in diesen Kontext übertragen – teils durch NGOs wie Maison Artemisia, die traditionelle Praktiken mit wissenschaftlichen Methoden dokumentieren.


Auch in Europa waren Artemisia-Gewächse kulturell tief verankert. Schon im antiken Griechenland galt der Beifuß als Pflanze der Artemis – der Göttin der Jagd, der Frauen, der Heilung. In germanischen Regionen wurde der Beifuß zu Mittsommer verbrannt, um böse Geister zu vertreiben. Wermut, eine weitere Schwester der Artemisia-Familie, fand Verwendung in Absinth und als Heilmittel gegen Magenleiden. Die Heilkunde des Mittelalters, ob klösterlich oder volkstümlich, kannte die Artemisia-Familie – auch wenn Artemisia annua als asiatischer Import noch nicht verbreitet war.



Artemisia Vulgaris im Mittelalter Geschichte



So offenbart sich die Pflanze in all ihren Varianten als ein wanderndes Heilwissen: lokal angepasst, kulturell interpretiert, doch in ihrer Essenz stets anerkannt. Die traditionelle Nutzung von Artemisia annua ist nicht nur ein Kapitel in der Geschichte der Medizin – sie ist ein Mosaik aus Stimmen, Zeiten, Praktiken. Eine Pflanze, die nicht einfach angewendet wurde, sondern die eingebettet war in Weltbilder, die Gesundheit als Balance verstanden. Und vielleicht liegt genau darin ihre anhaltende Bedeutung.





Internationale Quellen:




 
 
 

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